Im Sommer 2019 startete der Segler-Verein Braunschweig e.V. (SVBS) in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Stiftung Neuerkerode eine Trainingsgruppe für junge Erwachsene mit geistiger Behinderung. Seitdem treffen sich wöchentlich sechs Beschäftigte der Mehrwerk gGmbH (eine Gesellschaft der Evangelischen Stiftung Neuerkerode) mit Trainern des SVBS und stechen gemeinsam in den Braunschweiger Südsee.
Nachdem erste Termine mit interessierten Beschäftigten der Werkstätten äußerst positiv verlaufen waren und ein privater Katamaran für erste Probetouren genutzt werden konnte, fiel auch die Wahl für den laufenden Trainingsbetrieb auf einen Kat. Für die Größen- und Windverhältnisse auf dem lokalen Gewässer sind Katamarane eigentlich kein geeignetes Sportgerät, aber für das Einsteigertraining wurde diese Wahl getroffen, weil sie mehr Bewegungsfreiheit bieten, der Einstieg ohne Hindernisse auf Stegniveau erfolgen kann, und die höhere Stabilität beim Aufsteigen gerade für Menschen mit multiplen Einschränkungen besonders vorteilhaft ist.
Der für diesen Zweck angeschaffte Topcat K1 und ein multifunktionales Begleit- und Sicherungsboot mit Bugklappe von Barro wurden teils durch Spenden (u.a. von der Stiftung Kleiderversorgung Braunschweig, der Lotto-Sport-Stiftung, dem Unternehmerstammtisch Braunschweig, S&F Personalpsychologie) und teils durch Eigenmittel des Vereins und der Mehrwerk gGmbh finanziert. Automatische Rettungswesten von Secumar, gespendet von dem Lions-Club Eulenspiegel, sorgen für die notwendige Sicherheit und Bewegungsfreiheit während der Segelmanöver.
Nun steht der Katamaran „Luise“, getauft in Anlehnung an Luise Löbbecke – Mitbegründerin der Evangelischen Stiftung Neuerkerode – auf dem Vereinsgelände des SVBS und wird regelmäßig mit großer Begeisterung und gewissenhaftem Eifer gemeinsam aufgeriggt und zu Wasser gelassen. Jeder Segelschüler bringt sich beim Klarmachen und Slippen des Kats entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten ein. Schon dabei ist die Freude an dem Erfolg des gemeinsamen Tuns in den Gesichtern nicht zu übersehen.
Das Highlight ist aber natürlich das Segeln auf dem See mit all den so geschätzten Sinneseindrücken eines Seglers! Waren anfangs noch deutlich Zweifel oder Unsicherheiten beim Betreten oder Bewegen auf Rümpfen und Trampolin vorhanden, haben sich diese bei den Segelschülern mit unterschiedlichsten, auch motorischen Handicaps erstaunlich schnell gelegt. Jeder Segelschüler wird Schritt für Schritt, in seinem eigenen Tempo, mit den Aufgaben des Vorschoters und des Steuermanns vertraut gemacht. Das stolze Zeigen eines gelungenen Seemannsknotens und Sätze wie: „Das ist heute schön hier“, „jetzt segeln wir aber richtig“, „finde ich richtig gut“, „das hat heute Spaß gemacht“, „danke, dass Ihr das mit uns macht“ von Menschen die üblicher Weise nur selten etwas sagen, oder auch nur ein zufrieden, entspanntes Lächeln im Gesicht eines stark autistischen Segelschülers gibt auch den Trainern eine Menge wieder. Mittlerweile nehmen inklusive Segelcrews auch schon bei vereinsinternen Regatten teil.

So kann Teilhabe an der Gesellschaft funktionieren! Die Fortschritte bei den Segelschülern mit Handicap sind so vielversprechend, dass der SVBS das Angebot an inklusivem Segeln ausweiten möchte, so dass in der nächsten Segelsaison weitere Trainingseinsteiger auf dem Kat beginnen können, aber auch andere Bootstypen getestet werden sollen. Zudem stehen wir in engem Kontakt mit den Special Olympics Deutschland e.V. (SOD) und den SO Niedersachsen. Schließlich finden die Special Olympic World Games 2023 in Berlin statt. Nachdem Segeln bei den Nationalen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung 2018 in Kiel noch eine Show-Sportart war, sollen 2023 erstmals auch Segelwettbewerbe als offizielle Disziplin auf dem Wannsee ausgetragen werden. Der SVBS steuert gemeinsam mit der Stiftung Neuerkerode die Qualifizierung und Teilnahme an den Special Olympics an und hofft auf zahlreiche weitere Segelvereine, die sich auch für das inklusive Segeln engagieren und an den Wettbewerben teilhaben wollen.
Ziel des gemeinsamen Sporttreibens ist es, Menschen mit geistiger Behinderung zu mehr Anerkennung, Selbstbewusstsein und mehr Teilhabe an der Gesellschaft zu verhelfen. Hierbei hat auch der Seglerverband Niedersachsen (SVN) dieses inklusive Projekt mit der Beteiligung an den Trainerstunden finanziell unterstützt.

Wir sagen herzlichen Dank und freuen uns auf die nächste inklusive Segelsaison auf dem Südsee in Braunschweig! Im Namen aller Segelschüler und ehrenamtlichen Trainer:

Dr. Isabell Pott